Die Rolle des Handels
Über verschiedene Mechanismen nimmt der Handel einen unmittelbaren Einfluss auf die Marktzyklen von Produkten und das Verhalten von Konsument*innen – mit positiven und negativen Folgen für Gesellschaft und Umwelt.
Vertrieb und Handel spielen seit jeher eine zentrale Rolle bei der Vermittlung von Angebot und Nachfrage. Handelsunternehmen und Handelssysteme entscheiden heute nicht nur darüber, welche Waren in das Regal kommen und wie diese für Kund*innen platziert werden. Sie nehmen auch maßgeblich Einfluss auf die Preisbildung und das angebotene Qualitätsniveau am Markt.
Folgt man dem Ökonomen Adam Smith, neigt jeder Mensch dazu, mit anderen Menschen zu handeln und Dinge gegeneinander einzutauschen [engl. „truck, barter and exchange”] [1] . Die ersten, frühzeitlichen Märkte waren dabei überwiegend durch den Handel regionaler Waren geprägt. Hierzu zählten vor allen Nahrungsmittel, Kleidung und andere Dinge des täglichen Bedarfs. Das Angebot war entsprechend übersichtlich und auf die lokalen Möglichkeiten beschränkt.
Für Abwechslung sorgten im Zuge des aufkeimenden Handelskapitalismus ab dem 15. Jhd. vor allen Gewürze wie die Muskatnuss, Sandelholz oder Porzellan. Sie wurden über weite Strecken transportiert und als Luxusgüter gehandelt, was besondere Begehrlichkeiten weckte [2] . Obgleich der Handel mit Gütern in den folgenden Jahren beständig zunahm, blieb das Wachstum des globalen Handelsvolumen in den darauffolgenden Jahren eher gering bis moderat und erlebte erst nach dem zweiten Weltkrieg ab Anfang der 1950 Jahre ein exponentielles Wachstum [3] .
Heute sehen sich Konsument*innen mit einer nie dagewesenen Auswahl an Produkten und Dienstleistungen konfrontiert. Digitale Märkte und Handelsplattformen ermöglichen es, zeitsparend und kostengünstig auf internationale Lieferketten und Produktmärkte zuzugreifen [4] . Als eine Folge haben sich in den letzten Jahrzehnten in fast allen Lebensbereichen die Waren- und Güterströme beschleunigt und zugenommen [5-9] . Ein paar wenige Beispiele sollen dies verdeutlichen:
Der Handel nimmt heute als Schnittstelle zwischen Hersteller*innen und Konsument*innen einen maßgeblichen Einfluss auf die Produktauswahl in den Märkten und das Konsumgeschehen. Zum Handel zählen heute eine Vielzahl an Akteur*innen und Formaten. Handelsketten agieren dabei nicht nur als reine Vermittler zwischen Angebot und Nachfrage, sondern koordinieren komplexe Lieferketten und stoßen selbst Produktentwicklungsprozesse an [14] . Jedes größere Handelsunternehmen wie Supermarktketten, Baumärkte, Elektronikhändler und vor allen Modeketten führen heute Eigen- bzw. Handelsmarken, die im Auftrag des Unternehmens produziert und vermarktet werden. Im europäischen Einzelhandel beträgt der Marktanteil an Eigen- und Handelsmarken mengenmäßig heute bereits ca. 49,6 % [15] .
Hersteller und Handel operieren heute in weitestgehend gesättigten Märkten, insbesondere die Nachfrage nach neuen Haushaltsgeräten und elektronischen Produkten stagniert seit vielen Jahren, wie auch in der deutschen Haushaltsstatistik deutlich wird (Abbildung 1).
Abbildung 1: Haushaltsausstattung pro 100 Haushalte in Deutschland von 1962-2018 (Data: Statistisches Bundesamt 2020).
Wenn aber alle schon alles haben, wer soll dann die ganzen neuen Dinge überhaupt kaufen?
Nicht zuletzt das „paradox of the plenty“ [Paradoxie des Überfluss] [17] hat spätestens ab dem einsetzenden Massenkonsum in den 1950er Jahren Herstellern und Handel den Vorwurf der geplanten Obsoleszenz eingehandelt [18-20] .
Jedoch kaufen viele Konsument*innen heute nicht nur Produkte, um defekte Waren zu ersetzen. Umfragen zeigen, dass viele Geräte gegen neue Produkte ersetzen werden, ohne dass ein Defekt beim Alten vorliegt [21, 22, 38] . Gebrauchtmärkte zeigen darüber hinaus, dass viele Konsument*innen sich von alten Geräten trennen, obwohl diese noch funktionsfähig sind.
Darüber hinaus haben Unternehmen und Handel verschiedene Strategien entwickelt, um Neukauf gezielt zu fördern:
Die Digitalisierung vereinfacht die Verbreitung und Vermarktung von Produkten. Der Online-Handel ermöglicht eine verteilte Lagerhaltung und digitalisierte Lieferketten. Unternehmen können somit ihre Waren global besser und kostengünstiger verteilen [4,34] . Digitale Marktplätze bieten darüber hinaus den Raum für sehr differenzierte Nischenmärkte, so lässt sich jedes noch so spezielle Nischenprodukt anbieten. So ist es möglich, dass heute Produkte gehandelt werden können, für die es früher schwer oder aufwändig war, überhaupt Nachfragende zu finden [33] .
Eine Vielzahl moderner Suchalgorithmen und -systeme assistieren Konsument*innen heute bei der Navigation durch das unüberschaubare Warenangebot und können gezielt Produkte empfehlen und Bedarfe wecken. Beim so genannten Target Marketing werden verschiedene Online und Social-Media-Kanäle genutzt, um spezifische Zielgruppen, wie Jugendliche oder frischgebackene Eltern anzusprechen. Noch nie waren Menschen für den Handel so gut erreichbar wie heute.
Einerseits ist der moderne Handel ökologisch und ökonomisch zum Teil effizienter, weil Warenströme besser gelenkt werden können. Andererseits werden Effizienzgewinne durch die steigende Produktion und Mehrkonsum zunichte gemacht ("Rebound-Effekt") [35,36]
. Der Handel reguliert wie ein Ventil den Zustrom, welche Produkte zu welchem Zeitpunkt im Regal landen. Dass heute nicht alle Produkte einen Abnehmer oder eine Abnehmerin finden und ein Überangebot an Produkten mit negativen Kosten verbunden ist, wird dabei von den Unternehmen einkalkuliert, wie unlängst Berichte über die Vernichtung von Retouren im Versand- und Einzelhandel gezeigt haben [29,30]
. Für viele Händler scheint es heute einfach lukrativer zu sein, etwas mehr Ware ins Regal zu stellen und das Sortiment öfter zu wechseln als für jedes Produkt ein*e Abnehmer*in zu finden. Was übrig bleibt, wird entsorgt oder zu Dumping-Preisen weiterverkauft.
Das Wort „Affluenz“ stammt vom lateinischen Begriff „affluentia“ und bedeutet Überfluss oder Zustrom. Mit der geplanten Affluenz kann eine Marketingstrategie bezeichnet werden, bei der Handel und Unternehmen systematisch auf eine Überproduktion und Überangebot von Produkten in den Märkten sorgen. Affluenz- und Obsoleszenzstrategien hängen dabei stark miteinander zusammen. Geplante Affluenz sorgt für den Zustrom einer Vielzahl von Produkten ins Konsumsystem, wohingegen die verschiedenen Formen von Obsoleszenz die Lebensdauer verkürzen [Abbildung 2]. Zusammengenommen können Affluenz- und Obsoleszenzstrategien deshalb als Konsumverstärker wirken. Besonders offensichtlich zeigt sich diese Logik im Ultra-Fast-Fashion Bereich, wo der schnelle Wechsel von Kollektionen mit besonders kurzlebigen und günstig verarbeiteten Textilien kombiniert wird.
Abbildung 2: Konzeptionelles Schema von Affluenz und Obsoleszenz als Zustrom-Abfluss Verhältnis in einem Produktmarkt (Quelle: Erik Poppe)
Die „geplante Affluenz“ ist ein neues Konzept in der Forschung zur Kurzlebigkeit von Produkten und wird in OHA weiter erforscht. Ähnlich wie bei den Bedingungen der Obsoleszenz lassen sich jedoch auch hier verschiedene Formen beschreiben:
Die verschiedenen Arten der geplanten Affluenz sind in der Praxis häufig Mischformen.
Der moderne Handel ist heute ein Hochleistungssystem, das immer schneller und mit immer größerer Reichweite agiert. Im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung ist es wichtig, dass sich Politik und Forschung stärker mit der Bewältigung des Überflusses beschäftigen.
Sprungmarke Literatur/Quellen
[1] Smith, A. (1981/1776). The wealth of nations. 25, Book I, Chapter II.
[2] Bernstein, W.J. (2008). A splendid exchange. How trade shaped the world, NY: Atlantic Monthly Press, pos. 1482-1914.
[3] https://ourworldindata.org/trade-and-globalization
[4] Frick, V./ Gossen, M./ Lautermann, C./ Muster, V./ Kettner, S./ Thorun, C./ Santarius, T. (2019): Digitalisierung von Märkten und Lebensstilen: Neue Herausforderungen für nachhaltigen Konsum (=UBA-Texte 124/2019), Dessau: Umweltbundesamt.
[5] Bocken, Nancy M. P./ Pauw, Ingrid de/ Bakker, Conny/ van der Grinten, Bram (2016): Prod-uct design and business model strategies for a circular economy, Journal of Industrial and Production Engineering, 33:5, 308-320, DOI: 10.1080/21681015.2016.1172124.
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[9] Wieser, H. (2017): Ever-faster, ever-shorter? Replacement cycles of durable goods in historical perspective. In: Bakker, C.A./Mugge, R. (Hrsg.): PLATE – Product Lifetimes And The Environment (Conference Proceedings, 8–10 November 2017.
[10] Brandt, M. (31. Januar, 2017). 229 Millionen Produkte auf Amazon.de [Digitales Bild]. Zu-griff am 21. Januar 2021, von https://de.statista.com/infografik/7849/bei-amazon-deutsch-land-gelistete-produkte/
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[13] Ruhlmann, M. (2017): Govery. The buying and selling of food in America, NY: Abrahms Press
[14] Zentes, J./ Swoboda, B./ Morschett, D./ Schramm-Klein, H. (Hrsg.) (2012): Herausforderung des Handelsmanagement, In: Handbuch Handel: Strategien - Perspektiven - Internationaler Wettbewerb, 2. Auflage, Oo: Springer Gabler, S.1-18.
[15] Nielsen (2020), plmainternational.com, zitiert nach Ahrens, S.: Marktanteil von Handelsmarken in ausgewählten Ländern in Europa im Jahr 2019 (gemessen an der Menge), Hrsg, Statista 2020, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/163722/umfrage/marktanteile-von-handelsmarken-in-ausgewaehlten-laendern-der-welt/
[16] https://www.stern.de/wirtschaft/news/amazon--die-geheimen-eigenmarken-des-onlineriesen-7577786.html
[17] London, B. (1932): Ending the Depression Through Planned Obsolescence. New York: ohne Verlag.
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[20] Guiltinan, J. (2009): Creative Destruction and Destructive Creations: Environmental Ethics and Planned Obsolescence. In: Journal of Business Ethics 89, H. 1 (Supplement), S. 19–28.
[21] Prakash, S./Dehoust, G./Gsell, M./Schleicher, T./Stamminger, R. (2016): Einfluss der Nutzungsdauer von Produkten auf ihre Umweltwirkung: Schaffung einer Informationsgrundlage und Entwicklung von Strategien gegen »Obsoleszenz« (=Texte 11/2016), Dessau-Roßlau: Umwelt-bundesamt, Download: www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/378/publikationen/texte_11_2016_einfluss_der_nutzungsdauer_von_produkten_obsoleszenz.pdf (Abruf am 05.03.2019), S. 315–318.
[22] Jaeger-Erben, Melanie, Hipp, Tamina/ Nachwuchsgruppe Obsoleszenz (Hrsg., 2017). Letzter Schrei oder langer Atem? – Erwartungen und Erfahrungen im Kontext von Langlebigkeit bei Elektronikgeräten . Deskriptive Auswertung einer repräsentativen Online-Befragung in Deutschland. OHA-Texte 1/2017.
[23] Kahn, Barbara E. (1995): Consumer Variety-Seeking among Goods and Service. Journal of Retailing and Consumer Services, 2 (Fall), 139-148.
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[30] http://www.retourenforschung.de/info-stellungnahme-zur-gesetzgebung-gegen-retouren-vernichtung.html
[31] Frick, V./ Jaeger-Erben, M./ Hipp, Tamina (2019): The „making“ of product lifetime: the role of consumer practices and perceptions for longevity . In: Proceedings of 3rd Plate 2019 Conference. Berlin, Germany, 18-20 September 2019.
[32] Trendwatching.com (2012): NEWISM. Why more than ever, consumers lust after the new. And why that spells heaven or hell for brands, July/ August 2012 Trend Briefing, Retrieved November 04, 2020, from: https://trendwatching.com/trends/newism/
[33] Anderson, C. (2006): The long tail, Why the future of business is selling less of more. Hachete Books, New York 2014.
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[35] Santarius, T. (2015). Der Rebound-Effekt. Ökonomische, psychische und soziale Herausforderungen für die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch, Marburg: Metropolis Verlag, pp. 185-209.
[36] Santarius, T.; Pohl, J.; Lange, S. Digitalization and the Decoupling Debate (2020): Can ICT Help to Reduce Environmental Impacts While the Economy Keeps Growing? Sustainability 2020, 12, 7496.
[37] https://en.wikipedia.org/wiki/Upselling
[38] Cooper, T. (2004): Inadequate Life? Evidence of Consumer Attitudes to Product Obsolescence. In: Journal of Consumer Policy 27, H. 4, S. 421–449.
Über verschiedene Mechanismen nimmt der Handel einen unmittelbaren Einfluss auf die Marktzyklen von Produkten und das Verhalten von Konsument*innen – mit positiven und negativen Folgen für Gesellschaft und Umwelt.
Bei der Betrachtung der technologischen Entwicklung fällt auf, dass Software einen immer größeren Stellenwert einnimmt. Somit wird aber auch die Produktlebensdauer nicht mehr nur durch beschädigte Teile wie z.B. ein kaputtes Display bestimmt, sondern immer häufiger ist Software die Ursache für kurzlebige Geräte.
Reparatur spielt eine essenzielle Rolle, wenn es darum geht, Elektroschrott-Abfälle zu reduzieren. Die Lebensdauer von Produkte kann durch Reparatur verlängert und somit die Herstellung eines neuen Produkts verschoben werden.
von Luisa Stuhr
Gerade bringt die EU das Recht auf Reparatur auf den Weg. Was das genau beinhaltet und wann es besser ist zu reparieren als wegzuschmeißen, darüber hat hr Info mit Melanie Jaeger-Erben gesprochen.
von Luisa Stuhr
Vom Loch im Fahrradreifen bis zum defekten Wasserkocher – mit etwas Geduld und Geschick lässt sich so mancher kaputter Gegenstand wieder instand setzen. Melanie Jaeger-Erben und Sabine Hielscher sprechen in Folge 71 des Nachhaltigkeitspodcasts GRÜNLAND.
von Luisa Stuhr
Für die aktuelle Ausgabe der SUPERillu spricht Melanie Jaeger-Erben darüber, wie wichtig die Einstellung zu den eigenen Geräten ist: „Wenn wir Dinge wertschätzen und pfleglich behandeln, werden wir sie auch lange Zeit nutzen können.“
In unserem Blog berichtet unser Wissenschaftler*innen-Team über aktuelle Beispiele von kurz- und langlebigen Produkten und stellt die neuesten Forschungsprojekte & Ergebnisse vor.
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